Die Brennerbande, Teil 54


Vilet war jedoch auch nicht zu hause. Es dauerte eine Weile, bis er seiner Mutter alles erklärt hatte, zumal sie bereits von dem Brand im Marktzentrum gehört hatte - wie hätte sie nicht, war doch der Knall im ganzen alten Xpoch zu hören gewesen. Sie war, wie alle anderen, auf die Straße gelaufen und nach und nach waren die ersten Gerüchte auch in die Zirklergasse gekommen. Überraschenderweise hatte sie sich keinerlei Sorgen gemacht, dass etwas mit Tiscio geschehen sein konnte, schließlich war er bei Vilet und Vilet bedeutete Sicherheit. Wenn Vilet da war, konnte nichts geschehen. Deswegen machte sie sich umso mehr Sorgen, als sie hörte, dass Vilet verschwunden war. "Hoffentlich war sie nicht im Marktzentrum," rief sie immer wieder aus.
Nach einer halben Stunde gab Tiscio den Versuch auf, seine Mutter zu beruhigen. Aber was sollte er jetzt tun? Eigentlich hätte er heute Vilet helfen sollen. Aber das fiel jetzt wohl aus. Seine Freunde waren bei der Arbeit oder wenigstens auf dem Weg dorthin. Oder in der Schule. Oder hingen voller Selbstmitleid in der Feldstraße herum. Für die Schule war es jetzt zu spät. Außerdem war es gar nicht sein Schultag. Niemand konnte erwarten, dass er heute hinging.
Und dann traf es ihn wie mit einem Vorschlaghammer: Was war mit ihm los? Vilet war verschwunden! Man hatte sie entführt. Es gab keine andere Erklärung, nach dem, was gestern Abend vorgefallen war.
Er sprang auf, um den Weg abzugehen, den Vilet und oft auch er oder seine Mutter gingen, um zum Schrein zu gelangen. Er rannte los. Ein Plan formte sich in seinem Kopf, die Händler und Einwohner zu befragen, die ihnen fast jeden Tag begegneten, ob sie Vilet gesehen hatten. Ein guter Plan, der jedoch schon sehr bald daran scheiterte, dass die Metrowacht ihm den Weg versperrte. Und so nahm er doch wieder den langen Weg, der ihn schließlich zum Tempelbezirk zurückführte, wo er der verbliebenen Schlange wenigstens mitteilen konnte, dass Vilet nicht mehr kommen würde.

Inzwischen war Mittag längst durch und er merkte langsam, dass er noch nicht ernsthaft etwas gegessen oder getrunken hatte. Er musste ein wenig suchen, bis er einen der Straßenhändler fand, die Würstchen im Teig verkauften. Später erfuhr er, dass die meisten in Richtung der Fabriken gegangen waren, um den Arbeitern, die ihren Weg nun zu Fuß nach Hause finden mussten, etwas anbieten zu können. Als er schließlich einen der Händler fand, war er bereits so hungrig, dass er trotz seiner Abneigung gegen die Wasserratten aus Uvrialac - nichts gegen Königin Rintja, lang lebe ihre königliche Hoheit - so ein seltsames Zeugs probierte, dass aussah, als hätte jemand ein paar Hafenwürmer genommen, sie gebleicht und schließlich mit Öl übergossen. Es schmeckte gar nicht schlecht und der Preis war auch in Ordnung. Er musste hinterher nicht einmal aufstoßen. Trotzdem würde er es vermutlich nicht noch einmal nehmen. Dreckiges Uvrialaczeugs. Vermutlich waren es wirklich Würmer gewesen, obwohl der Mann was anderes behauptet hatte.

Blieb noch zu entscheiden, was er als nächstes tun sollte. Gunnar war inzwischen vermutlich zuhause, die Arbeitende Bevölkerung nicht, Skimir mied er immer mehr. Im Tempelbezirk hatte er nichts zu tun und zu Hause musste er vermutlich auf die kleinen Aufpassen oder sonst was machen. Am Abend wollte er sich auf jeden Fall wieder mit der Bande treffen. Eigentlich hatten sie vor gehabt, sich bei Kargerheim und Unterschnitt zu melden, um vielleicht ein wenig Geld zu verdienen. Aber jetzt musste er versuchen, seine Freunde davon zu überzeugen, nach Vilet zu suchen. Die Feldstraße war immer noch sein natürlicher Anlaufpunkt, wenn Tiscio nicht weiter wusste. Also machte er sich auf den Weg, um dort zu warten. Und warten musste er, denn die Arbeiter blieben lange aus. Zwar fing er Malandro zur gewohnten Zeit ab, aber Walther und Walmo brauchten eine halbe Ewigkeit. Während Tiscio und Malandro sich noch über den Tag austauschten kam auch Gunnar angetrottet, sichtlich erschöpft von seinem Weg durch die Stadt. Gemeinsam gingen sie zur Familie Fromur, wo sie auf die Rückkehr der Söhne warteten und dabei Walde Gesellschaft leisteten, die zusammen mit Alna auf dem Boden spielte. Die drei jungen Männer drückten sich in eine Ecke und tuschelten weiter über die Ereignisse des Tages.

Endlich trafen die beiden Jungs ein. Sie waren nicht sonderlich überrascht, ihre Freunde anzutreffen und schnell wurden die Klagen des Tages ausgetauscht. Tiscio wartete mit seinen Nachrichten bis zum Schluß. Die anderen sahen sich nur genervt an. Sie mochten Vilet nicht besonders. Es war nett, was sie für Tiscio und seine Familie getan hatte, sicher, aber sie war schlimmer als die Priester, so seiig, oder wie immer man es nennen wollte. Die Feldstraßler, mit Ausnahme Tiscios natürlich, waren sich einig, dass man sie vermeiden sollte. Dass sie verschwunden war, war nicht gut, klar. Aber Menschen verschwanden in Xpoch. Sie hatten es selbst erlebt und nur mit sehr viel Glück Alna wiedergefunden.

"Wir müssen Sie suchen. Ich weiß zwar nicht, wie wir das bei den Rittern anstellen wollen, aber ..."
"Wir werden es gar nicht. Meld es den Bertis." Walter hatte den langen Fußmarsch offensichtlich noch nicht verdaut. Auch der anschiss, den alle bekommen hatten, die zu spät gekommen waren, saß ihm noch in den Knochen, zumal dies gleichzeitig bedeutete, dass er weniger verdiente. Er und sein Bruder hätten tatsächlich länger gearbeitet, aber die nächste Schicht traf tatsächlich pünktlich ein und so konnten sie auch nichts mehr nacharbeiten.
"Oder wir sagen es Kargerheim." Alle blickten Malandro an. "Ich mein, wir wollten doch sowieso mal wieder hin, um zu kucken."
Walmo nickte: "Sagen können wir's ja."
Tiscio sprang auf: "Dann laßt uns los."
"Tiscsio!" Walter schüttelte den Kopf. "Verdammt. Du bist total verbort!"
"Ich lebe bei ihr. Meine Familie lebt bei ihr. Wenn sie nicht da ist, dann müssen wir zu Vater zurück! Verstehst du?"
Walter und Tiscio blickten sich grimmig an. Schließlich nickte Walter.
"Versteh's. Aber ich geh heut nirgendwo mehr hin. Und Walmo auch nicht. Wir müssen früh raus."
Tiscio wandte sich an Malandro und Gunnar: "Ihr? Kommt ihr wenigstens?"
"Drecksweg, aber wir wollten es eh machen. Und so wie ich es sehe, schulden wir ihr schon was." Malandro stand ebenfalls auf. Gunnar folgte seinem Beispiel. "Ich hab nur ein paar Bolzen am Getriebe zu justieren, aber die laufen nicht weg." Die Feldstraßler sahen ihren neusten Freund irritiert an. "Ihr wisst schon, mein Dampffahrzeug mit nur zwei statt vier Rädern. Weiß noch nicht, wie ich es nennen soll. Mein Vater ist besser darin, seine Erfindungen zu benennen." Malandro nickte kurz, immer noch verwirrt. Tiscio hingegen hatte die Ansammlung von Metallteilen und Holzstücken, Röhren, Schrauben und Platten gesehen. Er hielt es für vertane Arbeit, schon weil er sich nicht vorstellen konnte, dass jemand, der jünger war als er, eine brauchbare Dampfmaschine bauen könnte, die zumal keinem Vorbild folgte, dass irgendein Erwachsener sich erdacht hatte.
"Dann geh‘n wir los. Sehen uns morgen." Walmo lehnte sich an die Wand und schien eingeschlafen zu sein. Mit Walter schüttelten sie jedoch die Hände.
"Wir werden sehen, wie es morgen aussieht. Wohl bis morgen, ja." Und gerade also sie die Tür öffneten, blickte Walde auf und rief: "Ja, bis morgen."

Die Kinder aus der Feldstrasse, 03